Obstanlagen sind Biotope
Aus Sicht des Obstbaus ist die Aussage aber klar: Obstanlagen sind wertvolle Biotope. Dass wenig über die Artenvielfalt in Obstanlagen bekannt ist, liegt natürlich auch daran, dass ein Großteil der Tierarten scheu, sehr klein und teils schwer zu bestimmen ist oder gar unterirdisch lebt. Ähnlich der Tierwelt Afrikas, die der Tourist an den „Big Five“ (Elefant, Löwe, Nashorn etc.) festmacht, wird die Artenvielfalt häufig nur anhand eines kleinen Segments, z. B. der Schmetterlinge oder der Wildbienen, beurteilt. Zugegeben: zwei wichtige Segmente, aber in Summe nur ein kleiner Teil der Artenvielfalt.
Forschungsarbeiten
In den letzten 15 Jahren gab es in Deutschland etliche systematische Forschungsarbeiten, die Erstaunliches zu Tage brachten: Gewöhnliche Tafelobstanlagen werden von vielen Tierarten als willkommener Lebensraum genutzt – trotz Pflanzenschutzmitteleinsatz und anderer Kulturarbeiten. Von 2018 bis 2020 beobachtete ein Forscherteam der Uni Freiburg im Breisgau in 19 IP-Apfelanlagen am Bodensee die Insektenwelt. Sie zählten eine Stichprobe von 5.765 Bienen und 602 Schwebfliegen. Diese Tiere konnten genau 100 verschiedenen Bienenarten und 22 verschiedenen Schwebfliegenarten zugeordnet werden. Interessant ist, dass diese Insekten auf 139 verschiedenen Pflanzenarten in den Apfelanlagen gefunden wurden. Also auch die pflanzliche Artenvielfalt ist beachtlich. Bei einem anderen Projekt wurden – ebenfalls am Bodensee – Spinnentiere in Obstanlagen gezählt. In den drei ausgewerteten Betrieben wurden 29 verschiedene Spinnenarten nachgewiesen. Nicht jeder mag Spinnen, aber Spinnen mögen offensichtlich Obstanlagen. Auch im Alten Land, dem größten Obstanbaugebiet Deutschlands, südlich von Hamburg gelegen, wurde in Obstanlagen die Tierwelt bestimmt. In vier Betrieben zählte man die Libellen. Man fand Exemplare aus 32 Arten, zwölf davon stehen auf der Roten Liste. Das sind rund 40 Prozent der in Deutschland bekannten Libellenarten. In fünf anderen Betrieben wurden Vögel und Säugetiere ausgewertet. Man stieß auf zwölf Säugetier- und 24 Vogelarten. In drei bis sechs Nächten wurden zusätzlich neun Fledermausarten nachgewiesen. Weiter südlich im Bundesland Rheinland-Pfalz wurden die Blütenbesucher eines Obstbautriebes ausgezählt. Dabei wurden 103 Arten aus 17 Familien gefunden, u. a. 43 Bienenarten, 20 Schwebfliegen- und 20 Grabwespenarten. Generell fand man im Laufe des Projektes in vier deutschen Obstbauregionen in Obstanlagen über 700 Gliederfüßlerarten (Insekten, Spinnen, Tausendflüßler, Milben etc.). Die Aufzählung ließe sich noch um Laufkäfer, weitere Vogelarten oder auch Moose und Flechten erweitern.
Biodiversitätsfaktoren
Aber warum sind Obstanlagen so beliebt? Gegenüber bebauten Flächen liegt der Vorteil auf der Hand. Gegenüber anderen landwirtschaftlichen Flächen punkten Obstanlagen durch die relativ lange, ungestörte Standzeit der Bäume von ca. 20 bis 25 Jahren. Obstanlagen bieten somit langfristig und relativ ungestört vielfältigen Lebensraum: auf dem oder im Boden, am oder im Holz, an den Obstblüten, im Unterwuchs oder in der Randvegetation. Es gibt sonnige und schattige, trockene und feuchte, offene und bewachsene, bodennahe und hohe Bereiche. Obstbäume bieten Nahrungs-, Nist- und Rückzugsmöglichkeiten. Betrachtet man Streuobstwiesen mit noch längerer Standzeit im Vergleich zu Erwerbsobstanlagen, sieht man, dass es sogar noch Luft nach oben gibt. Das wissen auch die Obstbauern und bieten den Tieren zusätzliche Hilfen. Nistkästen, Sitzstangen für Greifvögel, Blühsträucher, Bienenhotels und vieles mehr sollen noch bessere Bedingungen schaffen. Leider haben die Forschungen aber auch gezeigt, dass eine Obstanlage allein noch keine Artenvielfalt garantiert. Es hängt stark von der Umgebung ab, aus der die Tiere ja irgendwann in die Obstanlage einwandern oder in die sie innerhalb ihres Lebenszyklus auswandern müssen. Eine Obstanlage, die isoliert neben einer Hochhaussiedlung, einer mehrspurigen Autobahn oder in einem Industriegebiet gelegen ist, wird keine optimale Artenvielfalt erreichen. Wichtig sind zusammenhängende Lebensräume, die den Arten ein Kommen und Gehen ermöglichen. Dies aber liegt nicht in der Hand der Obstbauern.